Presse-Bericht: …Warum die Sommeroper Selzach so aktuell ist…
Eine Frau verlässt ihren Mann wegen eines anderen und wird deswegen ermordet: Warum die Sommeroper Selzach so aktuell ist
Erst am Sonntagmorgen kam es im Wallis wieder zu einem Femizid. Die extreme Form von geschlechtsbezogener Gewalt ist auch Thema in Bizets «Carmen». Was Protagonisten der Sommeroper Selzach dazu sagen.
Eine Frau, die sich im Arbeiterinnen-Milieu und einem Umfeld voller Chauvinisten behauptet: die Tänzerin LaDina Bucher vor dem vom preisgekrönten Grafiker Stephan
Im Passionsspielhaus Selzach wird Georges Bizets «Carmen» geprobt. Das Kommunikationsdesign – eine schwarze Silhouette auf blauem Grund, eine rote Linie, die den Frauenkörper spaltet – weist darauf hin, dass diese Oper weder mit Romantik noch mit einem Happy End aufwartet. «Das Rot unterteilt den Namen Carmen in ‹Car› (Auto) und ‹Men› (Männer), nimmt die Machohaltung der patriarchalen Gesellschaft in Bizets Oper vorweg», lobt Co-Produktionsleiter René Gehri das von Grafiker Stephan Bundi gestaltete Plakat.
«Visuelle Kommunikation ist keine Gebrauchsgrafik, die stereotype Propaganda vermittelt, sondern mit Symbolen eine Geschichte erzählt. Als ich vor zwanzig Jahren für das Stadttheater Bern ein ‹Carmen›-Plakat mit der Silhouette einer Flamencotänzerin kreierte, zeigte ich das Verletzliche mit aufgerissenem Papier, darunter die Farbe Rot. Nun, zwei Jahrzehnte später, verkürzte ich auf ein Brustbild», erklärt Stephan Bundi den Schaffensprozess.
Er wolle nicht mit Blut und Wunden schockieren, jedoch das unschöne Ende einer schwierigen Liebe nicht verschweigen. Mit der roten Linie sei ihm eine innovative, optisch ästhetische Lösung gelungen. Das Plakat und Bizets Oper sind einer Frau gewidmet, die sich im Arbeiterinnen-Milieu und einem Umfeld voller Chauvinisten behauptet, ihre Unabhängigkeit verteidigt und damit im Musiktheater ein Novum geschaffen hat.
Plakatgestalter Stephan Bundi in seinem Atelier, hier auf einer Archivaufnahme von 2009.
Bild: Hanspeter Bärtschi
Femizide gehören auch in Mitteleuropa zum Alltag
Traviata und Mimi sterben an Schwindsucht, Lucia verlässt die Welt im Wahn, Tosca springt von der Engelsburg und Desdemona wird vom eifersüchtigen Ehemann erwürgt. Der Tod von Protagonistinnen ist in der Oper allgegenwärtig, auch der gewaltsame durch den Partner. Was auf der Bühne vereinzelt und in Werken wie Bizets «Carmen» geschieht, wo die nach Selbstbestimmung strebende Frau vom ehemaligen Liebhaber getötet wird, gehört mittlerweile auch in Mitteleuropa zum Alltag.
In der NZZ war im März 2024 zu lesen, dass in der Schweiz alle zwei Wochen eine Frau von ihrem Partner oder einem Familienmitglied getötet wird. Am vergangenen Sonntagmorgen hat in Vétroz VS ein Mann mutmasslich seine Ex-Partnerin und deren neuen Partner erschossen.
Körperliche, psychische und sexuelle Gewalt an Frauen hat es immer gegeben, die Geschichtsbücher sind voll davon. Thematisiert als geschlechtsbezogenes Delikt wird sie erst seit 2017, als sich im Zuge des Weinstein-Skandals die «MeToo»-Bewegung von Hollywood über die ganze Filmbranche ausbreitete.
Vor kurzem erreichte sie auch die Klassikszene, stellte berühmte Dirigenten wie James Levine, Gustav Kuhn, François-Xavier Roth und Startenor Placido Domingo an den Pranger. Beispiele, die untermauern, dass die Gefahr des Missbrauchs dort steigt, wo sich Macht sammelt und Gegengewichte fehlen.
Catherine Clément schrieb bereits 1994 in «Die Frau in der Oper» zu Carmen: «Der unbewusste Transfer einer Oper – Eine Musik, einer Frau gewidmet, ruft männliche Helden herbei. Und die Toreros sind wie Carmen, schillernd, kämpferisch und spielen mit dem Köder und dem Tier, dessen Hörner wie Dolche sind.»
Keine der Primadonnen wollte die Rolle übernehmen
Als Georges Bizet 1874 seine jüngste Oper «Carmen» in der Opéra-Comique in Paris vorstellte, gab es einen handfesten Skandal. Die ungestüme, erotische, eigenwillige und – was noch skandalöser erschien – freie Carmen war der Funke, der zehn Jahre später auch die italienische Oper entflammte und den Verismo entstehen liess, zu deren Hauptvertretern Puccini, Leoncavallo und Mascagni gehören.
Bis zu «Carmen» war die Pariser Oper ein Musterbeispiel sozialer Achtbarkeit, wo Familien ihre Söhne und Töchter der Gesellschaft vorstellten. Nun zeigten sich in «Carmen» erstmals Personen, die stolz, voller Leidenschaft und menschlicher Schwächen agieren, inmitten eines proletarischen und gewalttätigen Alltags. Entsprechend aufwendig wurde es, die Partie der Carmen zu besetzen, da keine der Primadonnen die Rolle übernehmen wollte.
Erst als Bizets heimliche Geliebte, die Sopranistin Célestine Galli-Marié, sich bereit erklärte, die Carmen zu singen, konnten die Proben beginnen. Die Uraufführung war ein Misserfolg, die Kritiken vernichtend. Erst als «Carmen» 1883, als ihr Komponist bereits gestorben war, in der Opéra-Comique wieder gespielt wurde, urteilte der Komponist Vincent d’Indy: «‹Carmen› ist ein Meisterwerk.» Dabei ist es bis heute geblieben.
Nun wird der Opernschlager an der Sommeroper Selzach gespielt. Regisseurin Maria Riccarda Wesseling schreibt im Programmheft: «Es sollte uns zu denken geben, dass eine der beliebtesten Opern der Welt sich um einen klassischen Femizid dreht: Eine Frau verlässt ihren Freund/Mann wegen eines anderen und wird dafür umgebracht.»
Überdimensionierte Egos im Kultur-Alltag
Bis die Theaterfiguren auf der Bühne gewalttätig werden, kann es beim Proben der Stücke zu Missbrauch und Gewalt kommen, wie aktuelle «MeToo»-Studien im Klassiksektor belegen. Eine Hypothek, unter der nicht nur betroffene Frauen, sondern auch unbescholtene Männer in Leitungsfunktionen leiden.
Auch «Carmen»-Dirigent Kaspar Zehnder: «Mich beschäftigen die sich gegenwärtig häufenden Nachrichten über sexuelle Belästigung und Machtmissbrauch in künstlerischen Bereichen, am Arbeitsplatz im Stadttheater, im Orchester oder in der Verwaltung einer kulturellen Institution sehr. Nicht nur, weil ich selbst Kulturschaffender bin, sondern auch, weil ich finde, gerade im kulturellen Bereich sollten doch Anstand, Werte, Menschlichkeit und Betriebsklima eine besonders wichtige Rolle spielen.»
Dirigent Kaspar Zehnder in Aktion am Neujahrskonzert des Tobs-Orchesters im Konzertsaal Solothurn.
Bild: Michel Lüthi
Leider gehe es im Kultur-Alltag aber oft um Macht und überdimensionierte Egos und nicht primär immer um soziale Kompetenz und emotionale Energie im kreativen und inspirierenden Sinne.
Was den Femizid in «Carmen» angehe, so könne er sich den Schritt zu so einer Tat schlicht nicht vorstellen. «In den Bereichen Machismo, Machtmissbrauch und Übergriffigkeit ist der Gedanke, dass ich einem Menschen unabsichtlich und ungewollt zu nahe treten könnte, sehr unangenehm», reflektiert der Dirigent das Thema und bemerkt, dass sich ihm Anstand und Selbstbeherrschung hoffentlich immer in den Weg stellen würden.
Charakterstärken, die Don José in Bizets Meisteroper nicht mehr spürt, wie ab 2. August im Passionsspielhaus Selzach zu erleben sein wird.
© Grenchner Tagblatt, 31.07.2024 von Silvia Rietz.